12/14/2023

Zusammenfassung und Bewertung der PISA-Studie 2022 („Programme for international Students Assessment“) der OECD

Die PISA-Studie 2022 zeigt für Deutschland die schlechtesten Ergebnisse, die je bei PISA gemessen wurden. Sie liegen noch unter dem Niveau des ersten PISA-Schocks im Jahr 2000. In Mathematik und im Lesen liegen die 15-Jährigen in Deutschland nahe beim Durchschnitt der OECD-Länder, lediglich in den Naturwissenschaften liegen die Leistungen über dem Schnitt. Auch bei der Bildungsgerechtigkeit bleibt Deutschland hinter dem Durchschnitt zurück.

Im Einzelnen

Die durchschnittlichen Ergebnisse von 2022 sind im Vergleich zur letzten PISA-Studie 2018 in den Bereichen Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften nochmals gesunken. Insgesamt sind die aktuellen Ergebnisse in allen drei Bereichen die niedrigsten, die jemals in Deutschland bei PISA gemessen wurden.

Leistungsrückgang in den letzten zehn Jahren

Der Leistungsrückgang von 2018 auf 2022 in Mathematik und Lesen entspricht einem Schuljahr. Damit wird ein Trend bestätigt und verstärkt, der sich seit 2012 abzeichnet. Von der ersten Studie im Jahr 2000 bis eben 2012 hatten sich die Schülerleistungen zunächst deutlich verbessert.

Der Abstand zwischen den Schülern mit den höchsten und niedrigsten Punktzahlen hat sich in den letzten Jahren nicht wesentlich verändert. In Mathematik sanken die Leistungen bei leistungsstarken und -schwachen Schülern in ähnlichem Maße. Im Vergleich zu 2012 stieg der Anteil der 15-Jährigen unter Mindestniveau um 12 Prozentpunkte in Mathematik, um 11 Prozentpunkte in Lesen und um 11 Prozentpunkte in den Naturwissenschaften.

Die Schülerinnen und Schüler liegen damit in Mathematik und Lesen beim OECD-Durchschnitt und in den Naturwissenschaften höher als dieser Schnitt. Auch die Spitzenleistungen entsprechen dem OECD-Durchschnitt, während ein überdurchschnittlicher Anteil das Mindestniveau in allen drei Bereichen erreicht.

30 Prozent unter Mindestniveau in Mathe

In Deutschland erreichten 70 % mindestens die Leistungsstufe 2 in Mathematik (OECD: 69%). Sie können zumindest interpretieren und erkennen, ohne direkte Anweisungen, wie eine einfache Situation mathematisch dargestellt werden kann (z. B. die Gesamtentfernung zweier alternativer Routen vergleichen oder Preise in eine andere Währung umrechnen).

Etwa 9 % in Deutschland gehören zur Spitzengruppe, wie auch im OECD-Schnitt. Auf diesem Niveau können Schüler und Schülerinnen komplexe Situationen mathematisch modellieren und geeignete Lösungsstrategien für ein Problem auswählen, vergleichen und bewerten. Unter der mindestens anzustrebenden Stufe 2 lagen in Mathematik 30 Prozent der Jugendlichen.

Ein Viertel unter Mindestniveau im Lesen

75 % der Schülerinnen und Schüler in Deutschland erreichten im Lesen die Mindeststufe oder mehr, dies ist nur wenig mehr als der OECD-Durchschnitt von 74%. Diese Schülerinnen und Schüler können zumindest den Hauptgedanken in einem Text mittlerer Länge erkennen, Informationen anhand eindeutiger Kriterien finden und über Zweck und Form von Texten reflektieren, wenn sie dazu aufgefordert werden. 25% erreichen diese Stufe nicht.

Auch mit 8 % Spitzengruppe liegt Deutschland nur knapp über dem internationalen Schnitt. Diese 15-Jährigen können längere Texte verstehen und mit abstrakten Konzepten umgehen. Sie unterscheiden zwischen Fakten und Meinungen, sie nehmen auch implizite Hinweise auf Inhalte oder Quellen wahr.

Überdurchschnittlich in den Naturwissenschaften

Etwa 77 % der Schülerinnen und Schüler in Deutschland erreichten in Naturwissenschaften die Mindeststufe 2 oder höhere Stufen, im OECD-Durchschnitt sind dies etwas weniger. Diese Schülerinnen und Schüler können zumindest die richtige Erklärung für bekannte naturwissenschaftliche Phänomene erkennen und in einfachen Fällen sehen, ob eine Schlussfolgerung zutrifft.

10 % gehören zu den Spitzenkräften in den Naturwissenschaften und übertreffen damit den internationalen Durchschnitt von 7%. Sie können ihr Wissen über Naturwissenschaften auf eine Vielzahl von Situationen anwenden, auch auf ungewohnte.

Soziale Herkunft bestimmt Bildungschancen

In Deutschland gehören 31% der Jugendlichen zum obersten sozioökonomischen Level. Sie erreichten in Mathematik einen der höchsten Werte unter Jugendlichen aus höhergestellten Schichten in aller Welt.
In Deutschland schnitt das sozial oberste Viertel in Mathematik deutlich besser ab als das unterste Viertel. Der Unterschied ist dabei größer als der durchschnittliche Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen, nämlich 111 gegenüber 93 Punkten. Der sozio-ökonomische Status spielt in allen Ländern eine Rolle, allerdings macht er in Deutschland mehr aus: Die Herkunft bestimmt zu 19% die Leistungsunterschiede gegenüber 15 % im internationalen Schnitt.
Etwa 10 % der sozial benachteiligten Jugendlichen in Deutschland konnten das obere Viertel der Mathematikleistungen erreichen.

Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund machen in Deutschland inzwischen 26% aus, vor zehn Jahren waren es erst 13 %. Von ihnen sind wiederum 9 % erst in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen. Während ein Viertel von allen 15-Jährigen als sozioökonomisch benachteiligt gilt, liegt dieser Anteil mit Migrationshintergrund bei 42 %. Die Koppelung von Migrationshintergrund und ungünstigem ökonomischem Status kennzeichnet die deutsche Situation. Etwa 63 % gaben außerdem an, zuhause am häufigsten eine andere Sprache als deutsch zu sprechen.

In Mathematik war der durchschnittliche Leistungsunterschied zwischen Schülern mit und ohne Zuwanderung mit 59 Punkten erheblich. Im Lesen lag dieser Unterschied bei 67 Punkten und war ebenfalls signifikant.

Junge Menschen brauchen mehr Unterstützung und weniger Ablenkung

Während drei Viertel der jungen Menschen in Deutschland das Gefühl haben, in der Schule dazuzugehören, fühlen sich 12 % einsam und 12 % als Außenseiter. 22 % sind daher mit ihrem Leben nicht zufrieden. 2018 waren mit 17% noch weniger mit ihrem Leben unzufrieden als heute. International ist der Anteil der unzufriedenen Jugendlichen von 16 % in 2018 auf 18% in 2022 gestiegen.

In Deutschland gaben 60% der Schülerinnen und Schüler an, dass die Lehrkraft ihnen eine Hilfe gibt, wenn sie sie brauchen – im OECD-Durchschnitt sind dies allerdings mit 70 % mehr. Das Lernklima ist nicht immer förderlich: Fast ein Drittel der Schülerinnen und Schüler kann in den meisten Unterrichtsstunden nicht gut arbeiten, im OECD-Schnitt sind dies nur ein knappes Viertel. 38 % hören der Lehrkraft an deutschen Schulen nicht zu gegenüber 30% international. Zudem werden Jugendliche in Deutschland häufiger durch ihre digitalen Geräte abgelenkt. Die Ablenkung geht da deutlich zurück, wo Handys auf dem Schulgelände verboten sind.

Die Corona-Pandemie hatte vor den PISA-Tests das Lernen eingeschränkt – deshalb wurden sie um ein Jahr verschoben. In Deutschland waren bei 71% der getesteten Jugendlichen die Schule mehr als drei Monate geschlossen. Im OECD-Schnitt erlebte die Hälfte der Jugendlichen ähnlich lange Schließzeiten.

Einsatz ist wichtiger als Höhe der Mittel

Die Ausgaben für Bildung stehen nur bis zu einem gewissen Grad mit den Schulleistungen in Zusammenhang. Länder, die ihre Ausgaben von niedrigem Niveau aus gesteigert haben, konnten bessere PISA-Testergebnisse erreichen. Dies ist jedoch nicht der Fall bei Ländern, in denen die Ausgaben bereits höher lagen: Für diese Gruppe von Ländern ist vielmehr die Art und Weise des Mitteleinsatzes wichtiger für die Schulleistungen als die Höhe der Investitionen. In Deutschland beliefen sich die kumulativen Ausgaben pro Schüler über zehn Jahre auf 121.100 US-Dollar.

Im Zusammenhang mit den Tests wurden auch Schulleitungen befragt. Sie klagen inzwischen wesentlich häufiger über Mangel an Lehrkräften als 2018. In der Tat wurden an Schulen, die über einen Mangel an Mathe-Lehrkräften berichteten, schlechtere Mathe-Leistungen erzielt.

Internationales Ranking

Außer in Japan sind die Leistungen in den letzten Jahren in allen Ländern zurück gegangen. Allerdings verschlechterten sie sich in Deutschland weitaus stärker als im internationalen Vergleich. Die Corona-Pandemie erklärt diesen Rückgang nur zum Teil.

Die Spitzenländer in allen drei Bereichen sind Singapur, Japan, Korea und Estland. Im Lesen erzielten nach den ostasiatischen Ländern auch Irland und Estland gute Leistungen, in den Naturwissenschaften auch Kanada.

  • In Mathematik bewegt sich Deutschland in einem Feld mit Schweden, Neuseeland, Litauen, Frankreich, Spanien, Ungarn, Portugal, Italien, Vietnam und Norwegen. Besser schneiden die Nachbarstaaten Polen, Schweiz, Österreich, Tschechien, Slowenien und Niederlande ab.
  • Im Lesen liegt Deutschland hinter USA, UK, Dänemark und Polen zurück und ist nahe bei Österreich, Schweden und der Schweiz.
  • In den Naturwissenschaften übertrifft Deutschland den Durchschnitt mit mehr Punkten als Niederlande und Frankreich, ähnlich wie Polen, Tschechien, Lettland und Schweden.

Bewertung:

Der negative Trend in den Schülerleistungen ist massiv sichtbar. Die Unternehmen spüren diesen Rückgang bereits länger. Mit PISA 2022 lassen sich diese Erfahrungen nicht mehr einfach abtun.

Nach dem PISA-Schock 2000 hatte die Bildungspolitik eine Systemwende vollzogen: Bildungsstandards wurden bundesweit vereinbart, auch für die Lehrerbildung. In den Ländern wurde eine systematische Qualitätsverbesserung eingerichtet. Schulen erhielten Spielräume, um individueller vor Ort fördern zu können. Die Arbeitgeberverbände haben diesen Systemwechsel sehr unterstützt. Nach den spürbaren Verbesserungen der Schulleistungen verlor die Schulpolitik offenbar das Interesse.

Das Datum 2012 zeigt, dass der Leistungsabfall nicht durch die Migration 2015/16 bedingt ist. Vielmehr treffen die neu zugewanderten Kinder auf ein Schulsystem, das sich schon zuvor mit der Integration schwergetan hat. Die Zunahme des Anteils von Migrantenkindern fordert die Schulen in den nächsten Jahren sicherlich sehr heraus.

Dass Deutschland sich im OECD-Durchschnitt bewegt, ist für unseren Wirtschaftsstandort zu wenig. Ziel muss es sein, den Anteil unter Mindestniveau deutlich zu senken und den Anteil der Spitzengruppe zu steigern. Mehr Bildungsgerechtigkeit geht nur mit mehr Schulqualität. Investitionen sind notwendig, aber an den Stellen, wo sie wirksam werden.

Nach diesem zweiten PISA-Schock brauchen wir schulpolitisch

  • eine Bildungswende hin zu besserer Schulqualität
  • ein verbindliches Umsetzen der Bildungsstandards
  • eine Offensive für den Mathematik-Unterricht
  • eine praxisnahe Lehrerbildung für heterogene Klassen
  • eine breitere Öffnung für Quereinstiege in den Lehrerberuf
  • eine frühe Sprachförderung insbesondere von Migrantenkindern
  • eine Unterstützung und Begleitung für Schulen in schwieriger Lage
  • mehr individuelles Fördern im Ganztag
  • eine neue Erziehungspartnerschaft Schule und Eltern.
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