08/10/2022

Zehn Kernforderungen für einen Arbeitsmarkt mit gleichen Chancen für Frauen und Männer

Noch immer unterscheiden sich die Erwerbsbiografien von Frauen und Männern. Über ein Berufsleben hinweg spiegelt sich das in Karriereverläufen, Gehältern und Rentenansprüchen wider. Als Gesellschaft lassen wir viel Potenzial liegen, wenn zum Beispiel Ingenieurinnen nicht oder nur in Teilzeit arbeiten können, weil sie nicht die Kinderbetreuung finden, die sie brauchen.

In den Führungsetagen sind immer mehr Frauen anzutreffen. Die Zahlen variieren zwischen großen und mittelständischen Unternehmen, Branchen und Regionen in Deutschland. Grundsätzlich könnten es aber mehr sein.

Insbesondere im MINT-Bereich sind Frauen weiterhin unterrepräsentiert. Ein eingeengtes Berufswahlspektrum, familienbedingte Erwerbsunterbrechungen und Stundenreduktionen aufgrund von ungleich verteilter Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen und Hausarbeit zwischen den Geschlechtern schlagen sich nachhaltig in den Verdienst- und Karrierechancen von Frauen und später auch in der Absicherung im Alter nieder.

Nur wenn die Ursachen für Geschlechterunterschiede am Arbeitsmarkt angegangen werden, können Renten- und Entgeltunterschiede nachhaltig reduziert werden und die in Deutschland vorhandenen Arbeitskräftepotenziale für Unternehmen und den Wirtschaftsstandort Deutschland ausgeschöpft werden. Angesichts des Fachkräftemangels und der demografischen Entwicklung können wir es uns als Gesellschaft nicht leisten, Potenziale ungenutzt zu lassen. Frauen am Arbeitsmarkt zu stärken ist daher eine zentrale Aufgabe, die es weiterhin gemeinsam anzugehen gilt. Gefragt ist nicht nur die Politik, die die richtigen Rahmenbedingungen schaffen muss, sondern sind letztlich alle – einschließlich der Arbeitgeber –, damit eine gesellschaftliche Entwicklung stattfinden kann, die Frauen auf dem Arbeitsmarkt stärkt.

  1. Haltung in der Gesellschaft verändern: Die meisten Hindernisse für Frauen im Erwerbsleben sind auf Geschlechterstereotype zurückzuführen. Es fängt dabei an, dass technische Kompetenz und Führungsqualitäten häufig immer noch eher Männern zugeschrieben werden und hört damit auf, dass vor allem Frauen in der Verantwortung für die Betreuung von Kindern und Pflege von Angehörigen gesehen werden. Rollenklischees begegnen uns täglich überall in den Medien, der Werbung, in Zeitschriften, in Romanen, in Liedern, in Schulbüchern und beim Spielzeugsortiment. Studien zeigen auf, wie diese Rollenbilder bereits von den Jüngsten verinnerlicht werden. Diese tradierten Rollenbilder müssen überwunden werden. Hier sind alle gefragt. Dies wird sich nur durch gesellschaftlichen Wandel und Vorbildern auf allen Ebenen ändern. Das Personalmanagement kann dazu beitragen, dass Frauen in Führungspositionen genauso selbstverständlich werden wie Männer, die in Elternzeit gehen.
  2. Im Bildungssystem frühzeitig Chancengleichheit gewährleisten: Bereits in der frühkindlichen Bildung müssen die Weichen für Chancengleichheit gestellt und gängigen Rollenbildern entgegengewirkt werden. Mädchen und Jungen müssen gleichberechtigt ihren individuellen Interessen und Talenten entsprechend gefördert werden, insbesondere auch im naturwissenschaftlichen und technischen Bereich. In der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern bzw. Lehrkräften muss diese Gendersensibilität vermittelt werden.
  3. Klischeefreie Berufswahl fördern: Das Berufswahlspektrum von Frauen (und auch Männern) ist noch zu eng. Frauen sind überdurchschnittlich oft in Branchen und Berufen mit niedrigem Vergütungsniveau bzw. geringeren Qualifikationserfordernissen tätig. Wir brauchen eine frühzeitige und kontinuierliche Studien- und Berufsorientierung und -beratung, die noch stärker über Verdienstchancen und Karrieremöglichkeiten aufklärt und mehr Frauen und ihr gesamtes Umfeld für MINT-Berufe begeistert. Da Eltern maßgeblichen Einfluss auf die Berufswahl der Kinder haben, muss Elternarbeit ein wesentlicher Bestandteil von Berufsorientierungsmaßnahmen sein. Frauen müssen nicht nur in der Schule durch die Berufsorientierung, sondern darüber hinaus auch beim Einstieg in Ausbildung und Studium in männerdominierten Fächern begleitet und unterstützt werden.
  4. Mehr Frauen in Führungspositionen: Um mehr Frauen für Führungspositionen zu interessieren und sie ihnen dann auch zu ermöglichen, braucht es sichtbare positive Vorbilder, Mentoring und Netzwerke als Gegengewicht zu den „old boy clubs“ sowie gezielte Vorbereitungs- und Förderprogramme in Unternehmen. Die vielen guten Unternehmensbeispiele gilt es weiter zu verbreiten und bekannt zu machen. Für Frauen, die Sorgearbeit übernehmen, können Führen in Teilzeit oder Topsharing (Jobsharing in Führungspositionen) Karrierewege eröffnen. Gesetzliche (Frauen-)Quoten gehen hingegen an der grundlegenden Problematik vorbei und versuchen Ungleichheiten zu „reparieren“, die schon viel früher ihre Wurzeln haben.
  5. Negative Erwerbsanreize abschaffen: Sowohl das Steuer- als auch das Beitragsrecht setzen negative Erwerbsanreize für Zweitverdienende – meistens Frauen – und stärken die traditionelle Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern. Die Steuerklassenkombination IV/IV mit Faktor sollte daher bei gemeinsamer Veranlagung von Paaren zur Regel gemacht werden. Auch die negativen Erwerbsanreize des Ehegattensplittings für Zweitverdienende müssen in den Blick genommen werden. Weitere Fehlanreize gehen von der beitragsfreien Mitversicherung von Ehe- und Lebenspartnerinnen in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung aus, die abgeschafft werden sollte. Die beitragsfreie Versicherung während der Elternzeit und der angehörigen Kinder sollte hingegen erhalten bleiben. Reformiert werden sollte zudem die Hinterbliebenenversorgung, da sie in ihrer heutigen Ausgestaltung die Nichterwerbstätigkeit von Ehepartnerinnen fördert, weil sie sich weitgehend darauf verlassen können, nach dem Tod ihres Ehemannes rentenrechtlich abgesichert zu sein, ohne jemals selbst erwerbstätig und rentenversicherungspflichtig gewesen zu sein.
    ​Die folgenden Kernforderungen beziehen sich auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Immer noch leisten Frauen mehr Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen und Hausarbeit als Männer. Von einer besseren Vereinbarkeit können aber grundsätzlich beide Geschlechter profitieren und es muss noch selbstverständlicher werden, dass auch Männer Sorge- und Hausarbeit leisten:
  6. Potenzial für eine familienfreundliche Personalpolitik nutzen: Unternehmen tun bereits viel, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Familienverantwortung zu unterstützen. Viele Unternehmen halten während Erwerbspausen Kontakt und ermöglichen die Teilnahme an Weiterbildungen und Veranstaltungen. Modelle zur Flexibilisierung der Arbeitszeit, mobiles Arbeiten oder ein erleichterter Wiedereinstieg nach Erwerbspausen sind in Zeiten des Fachkräftemangels ein Mittel für Unternehmen, qualifiziertes Personal zu gewinnen und zu halten. Starre gesetzliche Vorgaben vor allem in Bezug auf die Arbeitszeit schränken hier die betrieblichen Möglichkeiten eher ein. Die Regelungen zu Ruhezeiten sollten angepasst werden, um Eltern eine Kinderbetreuung am Nachmittag und das Bearbeiten von E-Mails am Abend zu ermöglichen, ohne dass sie dann am nächsten Tag erst später nach einer ununterbrochenen Ruhezeit von 11 Stunden die Arbeit wieder aufnehmen dürfen.
  7. Beschleunigter Ausbau der Betreuungsangebote: Nur durch flächendeckende und qualitativ hochwertige Ganztagsbetreuung in Kitas und Schulen können Eltern in Vollzeit oder vollzeitnah erwerbstätig sein. Gleichermaßen bedürfen Pflegende neben ihrer Beschäftigung eines übersichtlichen Beratungsangebots und einer unterstützenden Infrastruktur mit ambulanten, wie (teil-) stationären Unterstützungsangeboten, die bedarfsgerecht, wohnortnah und auch kurzfristig verfügbar sind.
  8. Erwerbsanreize im Elterngeld erhalten und Partnermonate ausbauen: Das Elterngeld Plus und nicht übertragbare Partnermonate schaffen Anreize für eine schnelle Rückkehr in die Erwerbstätigkeit und eine gleichmäßige Aufteilung der Elternzeit und Kinderbetreuung. Eine Verlängerung des gemeinsamen Elterngeldbezugs beider ginge hier in Zeiten des Fachkräftemangels in die falsche Richtung. Stattdessen sollte die Gesamtzahl der Bezugsmonate gleichbleiben und der Anteil der Partnermonate erhöht werden.
  9. Kindergrundsicherung anreizkompatibel gestalten: Die im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP angedachte Kindergrundsicherung hat das Potenzial, die aktuell kompliziert ineinandergreifenden und oftmals nicht zielgerichteten familienpolitischen Leistungen zu vereinfachen. Hierbei muss jedoch zwingend vermieden werden, dass die Kindergrundsicherung als passive Leistung Erwerbsanreize reduziert und die Prinzipien des aktivierenden Sozialstaats für Eltern aushebelt.
  10. Steuerliche Anreize zur Ausweitung der Erwerbstätigkeit: Durch die vollständige steuerliche Absetzung von Kinderbetreuungskosten oder die weitere Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen lassen sich zielgenau Anreize zur Ausweitung der Erwerbstätigkeit schaffen. Auch könnte kurzfristig anfallende Sorgearbeit, beispielsweise durch die Pflege Angehöriger, leichter mit einer Erwerbstätigkeit kombiniert werden. Dies kann auch über steuerfreie Arbeitgeberzuschüsse erfolgen, wie sie im Koalitionsvertrag vereinbart sind.
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