11/17/2021

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) hat am 10. November 2021 sein 58. Jahresgutachten mit dem Titel „Transformation gestalten: Bildung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit“ vorgestellt.

Während sich die Weltwirtschaft zunehmend von der Corona-Krise erholt, gilt es die tiefgreifende Transformation hin zu einer klimaneutralen und digitalen Wirtschaft im europäischen und globalen Kontext zu gestalten. Um diese Transformation zu erreichen, müssen private und öffentliche Investitionen verstärkt aber zugleich fiskalisch nachhaltig mobilisiert werden.

1. Konjunktur: Angebotsseitige Engpässe dämpfen Wachstum

Die deutsche Wirtschaft erholte sich im Sommer dieses Jahres weiter von den Auswirkungen der Pandemie, die angebotsseitigen Engpässe in den globalen Wertschöpfungsketten dämpfen das Wirtschaftswachstum jedoch. Es wird erwartet, dass sich die Industrieproduktion zum Teil ins nächste Jahr verschiebt.

Der SVR prognostiziert für das Gesamtjahr 2021 eine Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 2,7 %. Für 2022 ist eine Fortsetzung der begonnenen Erholung mit einer Zunahme des BIP um 4,6 % zu erwarten. Das Vorkrisenniveau aus dem 4. Quartal 2019 dürfte im Verlauf des 1. Quartals 2022 wieder erreicht werden. Diese Prognosen unterliegen jedoch bedeutenden Risiken, wie erneuten umfassenden Einschränkungen aufgrund der Pandemie oder länger anhaltenden Liefer- und Kapazitätsengpässen.

Der Anstieg der Verbraucherpreisinflation wird getrieben durch Basis- und Sondereffekte wie auch durch den Anstieg der Rohstoff- und Energiepreise. Der Sachverständigenrat prognostiziert eine Inflationsrate von 3,1 % für 2021 und von 2,6 % für das Jahr 2022. Durch angebotsseitige Engpässe, höhere Lohnabschlüsse und steigende Energiepreise besteht jedoch das Risiko länger anhaltender höherer Inflationsraten.

Die Erwerbstätigkeit stieg nach einem Rückgang im Jahr 2020 im ersten Halbjahr 2021 wieder an. Dies ist zu einem großen Teil auf eine Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zurückzuführen. Im Vergleich zu anderen Rezessionen wurden weniger Arbeitsverhältnisse beendet, was insbesondere auf die Sonderregelungen zum Kurzarbeitergeld zurückzuführen sein dürfte.

2. Fiskal- und Geldpolitik nach der Corona-Krise normalisieren

Die fiskalpolitische Reaktion auf die Corona-Pandemie hat zu einem stark negativen Finanzierungssaldo geführt. Der SVR erwartet, dass die öffentliche Verschuldung in Deutschland im Jahr 2021 auf 70,6 % des BIP ansteigt. Um die fiskalische Nachhaltigkeit sicherzustellen ist es wichtig, Maßnahmen mit Ende der Krise auslaufen zu lassen. Die Tragfähigkeit und Krisenresilienz der Staatsfinanzen sollte wieder gestärkt, Preisstabilität gewährleistet und die Rahmenbedingungen für private Investitionen verbessert werden.

3. Corona-Krise, Einkommensverteilung und Bildungschancen

Die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen ist in der Corona-Krise nach verschiedenen Befunden aufgrund sozialstaatlicher Maßnahmen nicht angestiegen, wenngleich geringfügig Beschäftigte, Geringqualifizierte und Selbstständige besonders negativ betroffen waren.

Bildung ist einer der durch die pandemiebedingten Beschränkungen am stärksten betroffenen Bereiche. Dies hat besonders bei Leistungsschwachen und sozial Benachteiligten zu bedeutenden Lern- und Entwicklungsrückständen geführt. Zudem hat die Corona-Krise zu einem Anstieg offener Stellen sowie unversorgten Bewerberinnen und Bewerbern auf dem Ausbildungsmarkt geführt.

Um die Gesellschaft langfristig zur Transformation zu befähigen, soll in Bildung investiert werden: Die Reduktion der Lern- und Entwicklungsrückstände, die Digitalisierung im Schulsystem sowie der Ausbau frühkindlicher Bildung und Betreuung sind maßgebend.

Aus- und Weiterbildung sowie Fachkräfte sind ebenfalls entscheidend für die Befähigung unserer Wirtschaft zur Transformation: Die Verankerung der Weiterbildung als festen Teil des Bildungssystems, Stärkung der Anreize zur Weiterbildung für Geringqualifizierte, Erleichterung des Übergangs von schulischer Ausbildung zur betrieblichen Berufsausbildung, Unterstützung der beruflichen und regionalen Mobilität und Stärkung der Arbeitsanreize für Zweitverdienende werden dabei adressiert.

4. Produktivität: Corona-Krise und Strukturwandel

In der Corona-Krise ist die Anzahl der Marktaustritte zurückgegangen. Um den Strukturwandel zu unterstützen, Unternehmensgründungen zu fördern und Marktaustritte zu verhindern wird die Verbesserung der Verfügbarkeit von Wagniskapital, die Anpassung des Insolvenzverfahrens für kleinere Unternehmen sowie die Stärkung der Absicherung der Selbstständigen vom SVR vorgeschlagen.

Die langfristige Stärkung des Produktionspotentials ist wichtige Voraussetzung eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums. Dafür notwendig sind Ausgaben für Forschung- und Entwicklung wie auch private und öffentlich Investitionstätigkeit. Das Zukunftspaket der europäischen Aufbau- und Resilienzfazilität wird in den Bereichen Klimaschutz und Digitalisierung solche Investitionen fördern.

5. Globaler Klimaschutz: Rahmenbedingungen und Handlungsoptionen

Der Klimaschutz wird als globale Herausforderung betrachtet, bei der die Risiken des Klimawandels als auch die wirtschaftlichen Chancen der notwendigen Transformation weltweit heterogen verteilt sind. Der SVR erwartet durch Lastenausgleich und Technologiekooperationen private Investitionen weltweit deutlich stärken zu können. Handelsabkommen sollten der engen Verflechtung zwischen Handel und Klima Rechnung tragen.

Bewertung

Die kurzfristigen Auswirkungen der Corona-Krise auf unsere Unternehmen sind derzeit noch zu spüren. Nichtsdestotrotz müssen die langfristigen Herausforderungen, vor denen die Wirtschaft unseres Landes steht, dringend angegangen werden. Der Fokus des diesjährigen SVR-Gutachtens auf die Transformation unserer Wirtschaft im Zeichen des Strukturwandels ist daher richtig gewählt, denn dies wird die zentrale Aufgabe der neuen Bundesregierung sein.

Die Schaffung von passenden investitionsfördernden Rahmenbedingungen, Vertrauen in die Menschen in den Betrieben vor Ort und Respekt vor unternehmerischer Leistung und Selbstständigkeit wie auch schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren sind entscheidende Faktoren, um dem wohl tiefgreifendsten Strukturwandel in der deutschen Wirtschaft seit der Wiedervereinigung zu begegnen. Von zentraler Bedeutung ist außerdem, den Investitionsspielraum privater Akteure nicht durch höhere Sozialversicherungsabgaben oder Steuern einzuschränken. Die moderne Arbeitswelt sollte realitätsnah, mit einem Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft und Tarifautonomie, weiterentwickelt werden.

Damit die Befähigung zur Transformation gelingen kann, sollte der Bildung, wie im vorliegenden Gutachten beschrieben, ein besonderer Stellenwert zugeschrieben werden. Passende Weiterbildungsangebote spielen hier eine wichtige Rolle z. B. im Rahmen von Teilqualifizierungen. Diese können insbesondere auch die Motivation von Geringqualifizierten steigern, da sie die Perspektive eines Berufsabschlusses bieten. Der Fokus sollte auf einem zielgerechten Beratungs- und Coachingangebot, Weiterbildungsverbünden und der Ausweitung digitaler Angebote liegen. Eine stärkere Regulierung der Weiterbildung z. B. durch einen gesetzlichen Rahmen ist hierfür nicht erforderlich, sondern eher hinderlich. Der Ausbildungsmarkt ist weiterhin durch die Pandemie geprägt, der Rückgang auf Bewerberseite und der damit verbundene hohe Anteil unbesetzter Ausbildungsstellen ist problematisch. Es ist deshalb notwendig, eine frühzeitige und praxisorientierte Berufsorientierung in allen allgemeinbildenden Schulen anzubieten. Für zusätzliche finanzielle Anreiz- oder Fördersysteme gibt es jedoch keinen Bedarf.

Als Chancen der Transformation führt der SVR zu Recht u. a. die Digitalisierung der Verwaltung, verlässliche Rahmenbedingungen für private Investitionen, den öffentlichen Infrastrukturausbau für die digitale und klimaneutrale Wirtschaft sowie die Stärkung der internationalen Klimakooperationen an.

In einer gemeinsamen Erklärung mit BDI, DIHK und ZDH forderten wir die künftige Bundesregierung kürzlich auf, eine Agenda 2030 für die Steigerung von Standort, Unternehmen und Arbeitsplätzen zu vorzulegen. Für diese Agenda kann das heute vorgelegte Gutachten eine Diskussionsgrundlage sein.

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