10/28/2021

Die Digitalisierung und die Weichenstellungen gegen die Erderwärmung verursachen einen beschleunigten sektoralen, qualifikatorischen und regionalen Strukturwandel, der mit erheblichen Veränderungen für Wirtschaft, Arbeitsmarkt und (Weiter-)Bildungssystem einhergeht. Wirtschaft und Arbeitswelt werden sich in den kommenden Jahren stark verändern. Hinzu kommt der demografische Wandel mit der wachsenden Notwendigkeit zur Fachkräftesicherung. Das erfordert von den Betrieben, wie auch von den Beschäftigten ein höheres Maß an Flexibilität und Veränderungsbereitschaft.

Die deutsche Wirtschaft und der Arbeitsmarkt haben in der Vergangenheit solche Strukturwandel bereits mehrfach erfolgreich durchlaufen. Das alles ist aber kein Selbstläufer. Nur mit wettbewerbsfähigen Unternehmen können wir den Wandel mitgestalten, Wachstum erhalten und somit Wohlstand und den erreichten hohen Beschäftigungsstand auch im aktuellen Strukturwandel halten und möglichst weiter ausbauen.

Dazu müssen alle Akteure auf dem Arbeitsmarkt ihrer Verantwortung gerecht werden: Die Hauptverantwortung für die Gestaltung des Strukturwandels liegt bei den Unternehmen und ihren Beschäftigten selbst. Die Arbeitgeber tragen Verantwortung für ihre Beschäftigten und sichern mit ihrem Engagement in der Aus- und Weiterbildung den Erhalt der Fachkräftebasis. Als Betriebspartner arbeiten sie auf betrieblicher Ebene an praktikablen Lösungen, als Tarifpartner schaffen sie über Tarifverträge den passenden Rahmen für den Strukturwandel in den jeweiligen Branchen. Für Beschäftigte wird sich individuelle Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt in erster Linie aus Flexibilität, Veränderungs- und Weiterbildungsbereitschaft und damit einer ständig aktualisierten Beschäftigungsfähigkeit speisen.

Die Aufgabe des Staates ist es, Unternehmen und Beschäftigte bei der Gestaltung des Strukturwandels zu unterstützen. Das geht am besten durch die Schaffung der richtigen Rahmenbedingungen für eine nachhaltige und wettbewerbsfähige Wirtschaft. Dort, wo es notwendig ist, sollte der Staat – und in bestimmten Fällen auch die von den Arbeitgebern und Beschäftigten getragene Arbeitslosenversicherung – durch arbeitsmarktpolitische Instrumente eine gezielte Weiterbildungsförderung weiter aktiv unterstützen.

1. Aus- und Weiterbildung zur Sicherung von Beschäftigungs- und Wettbewerbsfähigkeit strategisch ausrichten

Bildung wird für unsere Volkswirtschaft zu einem immer wichtigeren Rohstoff. Sie ist für uns alle der maßgebliche Faktor, um erfolgreich durch ein sich ständig veränderndes Arbeitsleben zu kommen. Gezielte Qualifizierung von Beschäftigten ist grundsätzlich Aufgabe der Unternehmen und der Beschäftigten selbst. Berufliche Qualifizierung muss sich an konkreten Bedarfen von Unternehmen orientieren.

Eine entsprechende Kultur im Unternehmen und Veränderungsbereitschaft bei den Beschäftigten sind zentral für die Beteiligung an Weiterbildung. Lebenslanges Lernen muss Teil der Unternehmens-DNA im Strukturwandel und selbstverständlicher Teil des Berufslebens für die Beschäftigten werden. Auf die Weiterbildung von Geringqualifizierten muss weiterhin ein besonderer Fokus gelegt werde. Hier müssen noch größere Anstrengungen zur Aufklärungsarbeit und zur Begleitung während der Weiterbildung, z. B. durch Mentoring oder Coaching, unternommen werden.

2. Transparenz und Orientierung in der Weiterbildung stärken

Digitale Weiterbildungsplattformen können eine wichtige Rolle spielen, da sie Orientierung und Transparenz – auch über ortsunabhängige Weiterbildungsmöglichkeiten – bieten können. Beim Aufbau solcher Plattformen darf es aber nicht zu Dopplungen und Konkurrenz der Plattformen kommen. Stattdessen sind Vernetzung bzw. Verlinkung und die Integration bestehender Plattformen zentral. Plattformen müssen so offen gestaltet sein, dass sie den freien Weiterbildungsmarkt nicht einschränken.

Vernetzte Beratungsstrukturen in den Regionen sollten eine niedrigschwellige, trägerübergreifende Weiterbildungsberatung ermöglichen. Im Sinne des “One.Stop-Shop” soll nach Möglichkeit jeweils eine zentrale erste Anlaufstelle digital wie analog bedarfsgerechte Beratung vermitteln oder anbieten. Die Bundesagentur für Arbeit hat hier eine zentrale moderierende Rolle.

3. Qualifizierung im regionalen Netzwerk voranbringen

Die Gestaltung des Strukturwandels erfolgt mit Blick auf den Arbeitsmarkt im Wesentlichen auf regionaler Ebene. Regionale Kooperationen von Arbeitsagenturen, Bildungseinrichtungen, Unternehmen, Sozialpartnern und Kammern sind wichtige Bausteine für die gelingende Vernetzung zur Weiterentwicklung von Kompetenzen, z. B. auch hin zu einem neuen Arbeitsplatz beim alten oder neuen Arbeitgeber.

Qualifizierungsverbünde von Unternehmen verschiedener Größenordnungen können eine Basis für Formen der Kooperation sein, den Erfahrungsaustausch erleichtern und Kostenvorteile bringen. Hochschulen können neben klassischen Studienangeboten insbesondere ihr Engagement in der wissenschaftlichen Weiterbildung verstärken, um wissenschaftsbasierte (Weiter-)Qualifizierungen zu ermöglichen und den Transfer von wissenschaftlichen Innovationen in die betriebliche Praxis zu verbessern.

4. Arbeitsmarktpolitik kann die Unternehmen in ihrer Verantwortung für die Qualifizierung ihrer Beschäftigten unterstützen

Die Arbeitslosenversicherung verfügt über zielgerichtete Instrumente, um die Weiterbildung von Beschäftigten im Strukturwandel zu unterstützen, damit eine Weiterbeschäftigung im Unternehmen gesichert und Arbeitslosigkeit vermieden werden kann. Es werden weder neue Förderinstrumente noch eine gesteigerte finanzielle Beteiligung der Arbeitslosenversicherung benötigt. Jedoch ist eine Neugestaltung der Förderung notwendig: Eine anteilige Weiterbildungsförderung von Beschäftigten kann flexibler und niederschwelliger ausgestaltet werden als eine olle Förderung von Arbeitslosen. Die Eigenbeteiligung durch den Arbeitgeber gewährleistet, dass die Weiterbildungsmaßnahme wirtschaftlicher, qualitativ, näher am Bedarf der Unternehmen und des Arbeitsmarktes ist und somit die Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besser sicherstellt.

Daher muss neben der bisherigen komplexen Förderung der Beschäftigtenqualifizierung eine neue deutlich vereinfachte und flexiblere Säule als Alternative geschaffen werden, die auf Sonderregelungen verzichtet, einen geringeren Mindeststundenumfang vorsieht und sich auf vier pauschale Förderhöhen nach Betriebsgröße beschränkt. Die neue Säule muss über mehrere Jahre erprobt und evaluiert werden.

Darüber hinaus sollten bestehende steuerfinanzierte Instrumente von Bund und Ländern zur Bezuschussung von Weiterbildungskosten und Sicherstellung des Lebensunterhalts bei individuellen, nicht arbeitsplatzbezogenen Weiterbildungen weiterentwickelt und besser miteinander verzahnt werden. Betriebe und Beschäftigte sollten zudem ihr Weiterbildungsengagement steuerlich besser geltend machen können. Hierzu sollten eine Abzugsfähigkeit in Höhe von 120 % der Qualifizierungskosten geschaffen werden – sowohl für Betriebe bei den Betriebskosten als auch bei den Werbungskosten der Beschäftigten.

5. „Aus Arbeit in Arbeit“ – den möglichst nahtlosen Personalübergang zwischen Unternehmen gestalten

Im Strukturwandel gibt es immer Fälle, in denen Beschäftigte in einem Unternehmen nicht mehr sinnvoll eingesetzt und weiterbeschäftigt werden können. Gleichzeitig bieten Strukturwandel und demografischer Wandel vielfältige Beschäftigungsmöglichkeiten in anderen Unter[1]nehmen. Hier muss ein möglichst nahtloser Übergang gestaltet werden. Die Arbeitslosenversicherung kann den Wandel flankieren und finanziell unterstützen. Ihre Aufgaben liegt in der Beratung und Vermittlung, der Förderung von Weiterbildung und der Unterstützung von Outplacementprozessen, z. B. im Rahmen von Transfergesellschaften. Durch die beschriebene neue vereinfachte und flexiblere Fördermöglichkeit für Beschäftigte soll die Arbeitslosenversicherung notwendige Qualifizierungen bei verbindlich vereinbarten Job-to-Job-Wechseln besser unterstützen können.

6. Vernetzung zwischen abgebenden und aufnehmenden Unternehmen vorantreiben und Drehscheiben entwickeln – Transfergesellschaften weiterentwickeln

Die Vermittlung von Beschäftigten, die bei ihrem Arbeitgeber keine Perspektive mehr haben zu anderen Arbeitgebern, ist Aufgabe der Arbeitslosenversicherung. Die Arbeitsagenturen können im Rahmen von regionalen Weiterbildungsverbünden oder Drehscheibenmodellen als Teil des regionalen Netzwerkes mit Unternehmen und Arbeitgeberverbänden agieren und eine moderierende Rolle einnehmen. In diesem Zusammenhang sollte die Idee von regionalen Qualifizierungs- und Beschäftigungsplattformen weiterverfolgt werden. Hier kann der Fachkräftebedarf im regionalen Kontext geklärt werden, personalabgebende und -suchende Betriebe können zusammengebracht, Zielbilder für eine bedarfsgerechte Qualifizierung geschärft und die Entwicklung entsprechender Qualifizierungsangebote mit der Trägerlandschaft vorangebracht werden.

Das Ziel eines Transfers „aus Arbeit in Arbeit“ haben auch Transfergesellschaften, bei denen die Arbeitslosenversicherung mit Transferkurzarbeitergeld und im Bedarfsfall mit Weiterbildungsförderung unterstützen kann. Transfergesellschaften müssen das Ziel einer Integration in Beschäftigung verfolgen, und nicht als „Rentenbrücke“ mit gezielter Einplanung von Arbeitslosengeldphasen genutzt werden. Transfergesellschaften sollten sich im Sinne einer Drehschreibe – möglichst auch branchenübergreifend – stärker mit potenziellen Arbeitgebern vernetzen und frühzeitig ein umfassendes Profiling sicherstellen.

7. Interessenausgleich und Sozialplan entschlacken und beschleunigen

Interessenausgleich und Sozialplan sollen nach dem Betriebsverfassungsgesetz helfen, Maß[1]nahmen mit negativen Auswirkungen für eine größere Zahl von Arbeitnehmern zu vermeiden oder abzumildern oder diese Maßnahmen sozialpolitisch zu flankieren. Um den Anpassungsprozess zu beschleunigen ist es sinnvoll, die Dauer der Verhandlungen über einen Interessenausgleich und einen Sozialplan zu straffen. Prozesse mit dem Ziel der Erhaltung und der Schaffung neuer Arbeitsplätze müssen beschleunigt werden.

8. Massenentlassungsrecht präziser fassen – Verzögerungen vermeiden

Die im Kontext von Interessenausgleichs- und Sozialplanverhandlungen einschlägigen Vorschriften des Kündigungsrechts zu Massenentlassungen sollten neugefasst, die Massenentlassungsregelungen gestrafft werden. Die europäische Massenentlassungsrichtlinie fordert kein unnötig kompliziertes, zweigleisiges Verfahren in zwei Gesetzen, wie es in Deutschland mit Regelungen im Betriebsverfassungsgesetz und im KSchG der Fall ist.

9. Verhältnis zwischen Betriebsverfassung und Tarifrecht präzisieren

Aufgrund der Rechtsprechung gibt es eine Tendenz zur Vermischung von betrieblichen Gestaltungsmitteln und gewerkschaftlicher Einflussnahme. Neben den Betriebsräten treten zunehmend auch Gewerkschaften auf, die ergänzende oder ersetzende Leistungen im Rahmen von Betriebsänderungen in Form von Tarifverträgen fordern. Dies ist für die Betriebe häufig mit erheblichem Mehraufwand verbunden.

Das Betriebsverfassungsgesetz legt fest, dass der grundsätzliche Vorrang tariflicher Regelungen nicht auf Sozialpläne angewendet werden soll. Um ein Gegeneinander und eine kontra[1]produktive Vermischung von Tarifverträgen und Sozialplänen zu verhindern, sollte klargestellt werden, dass während und im Gefolge von Interessenausgleichs- und Sozialplangesprächen keine in dieselbe Richtung zielenden gewerkschaftlichen Forderungen erhoben werden dürfen. Der betriebliche Sozialplan sollte den Tarifvertrag, der dasselbe Ziel verfolgt, „blockieren“.

10. Tarifpolitische Herausforderungen annehmen

Heterogene wirtschaftliche Entwicklungen und differenzierte individuelle Interessen erfordern eine neue tarifpolitische Ausrichtung. Die Tarifpolitik muss sich noch stärker an den betrieblichen Gegebenheiten orientieren, um einen weiteren tarifpolitischen Mehrwert zu schaffen und den Strukturwandel im Sinne der Betriebe konstruktiv mit zu begleiten.

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