10/06/2022

Zusammenfassung

Die im Koalitionsvertrag vereinbarte „Bildungs(teil)zeit nach österreichischem Vorbild (…)“, die „Beschäftigten finanzielle Unterstützung für arbeitsmarktbezogene Weiterbildung“ bieten soll, verkompliziert das ohnehin unüberschaubare Weiterbildungsförderrecht unnötig, ohne einen sinnvollen Mehrwert zu bieten. Bereits heute bestehen zahlreiche Möglichkeiten der arbeitsmarktbezogenen Weiterbildungsförderung für unterschiedliche Zielgruppen und mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Statt neue Förderinstrumente einzuführen, sollten die vorhandenen Förderinstrumente in eine Gesamtstruktur gebracht werden. Mögliche Förderlücken, z. B. für Ge[1]ringverdienende, die weder zeitliche noch finanzielle Ressourcen für Weiterbildung haben, könnten dann gezielt geschlossen werden. Zentral muss dabei immer der Aspekt der Arbeitsmarktrelevanz sowie des individuellen Unterstützungsbedarfs sein. Es besteht das Risiko, dass die geplante Bildungs(teil)zeit dies nicht berücksichtigt, sondern allein auf individuelle Weiterbildungsinteressen abstellt

Insbesondere die geförderte Beschäftigtenqualifizierung durch die BA, z. B. durch Nachholen eines Berufsabschlusses oder dem erweiterten Zugang zur Weiterbildungsförderung, wurde zuletzt durch das „Qualifizierungschancengesetz“ und das so genannte „Arbeit-von-morgen-Ge[1]setz“ erweitert und deckt jetzt zahlreiche Fallkonstellationen ab. Vor diesem Hintergrund ist keine Förderlücke erkennbar, die die Einführung einer Bildungs(teil)zeit aus arbeitsmarktpolitischer Sicht erfordern und eine Finanzierung aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung rechtfertigen würde.

Sofern mit der Bildungs(teil)zeit das gesamtgesellschaftliche Ziel einer Steigerung der Weiterbildungsbeteiligung erreicht werden soll – ohne Bezug zu individuellen Qualifizierungsbedarfen – müsste dieses auch gesamtgesellschaftlich, d.h. aus Steuermitteln, finanziert werden und nicht aus Mitteln der Beitragszahlenden. Auch für diese Konstellation müssten aber zunächst bestehende Förderinstrumente analysiert und ggf. Förderlücken identifiziert werden. Denn auch unabhängig vom Arbeitgeber und den Erfordernissen des Arbeitsmarktes bestehen schon heute steuerfinanzierte Fördermöglichkeiten, z. B. durch die Förderung einer Aufstiegsfortbildung. Zudem plant die Bundesregierung mit dem Lebenschancen-BAföG ein weiteres zusätzliches Förderinstrument, das eine entsprechende Zielsetzung zu verfolgen scheint („für die selbstbestimmte Weiterbildung auch jenseits berufs- und abschlussbezogener Qualifikation für alle“). Die Abgrenzung der verschiedenen Instrumente ist unklar, ein dringend erforderliches Gesamtkonzept bzw. eine Verzahnung ist nicht erkennbar. Die Planung der Bildungs(teil)zeit ist vielmehr ein weiterer Beleg für die innerhalb der Bundesregierung und zwischen Bund und Ländern unabgestimmte aktionistische Rechtssetzung im Bereich der Weiterbildung. Dies führt allzu oft zu einer schlechten Umsetzung und einem wenig zielgerichteten, wirkungsvollen Einsatz von Steuer- und Beitragsgeldern.

Im Einzelnen

Kein Bedarf für zusätzliches arbeitsmarktpolitisches Instrument

Es besteht kein Bedarf an zusätzlichen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten. Die vorhandenen müssen vereinfacht und flexibilisiert und damit anwendbar gemacht werden. Laut Koalitionsvertrag soll die Bildungs(teil)zeit eine „arbeitsmarktbezogene“ Weiterbildung wie z. B. eine berufliche Neuorientierung oder das Nachholen eines Berufsabschlusses ermöglichen.

Genau hier greift bereits das im Mai 2020 beschlossene „Gesetz zur Förderung der beruflichen Weiterbildung im Strukturwandel und zur Weiterentwicklung der Ausbildungsförderung (Arbeit[1]von-morgen-Gesetz)“. Beide im Koalitionsvertrag beispielhaft genannten Optionen sind bereits Gegenstand der bestehenden Beschäftigtenförderung und der Förderung von arbeitslosen Menschen in §§ 81 ff SGB III:

  • Das im Koalitionsvertrag explizit für die Bildungszeit aufgeführte Nachholen eines Berufsabschlusses wird bei arbeitslosen Menschen aktuell bereits durch die Arbeitsagenturen und Jobcenter gefördert, sofern sich dadurch die individuellen Beschäftigungschancen erhöhen (§ 81 Abs. 2 SGB III).
  • Ist eine Qualifizierung bis hin zu Neuorientierung am Arbeitsmarkt erforderlich, um Arbeitslosigkeit abzuwenden, greift die in §§ 81, 82 SGB III geregelte Beschäftigtenförderung durch die Arbeitsagenturen.
  • Wenn bei arbeitslosen Menschen für die Integration in Beschäftigung eine Qualifizierung bis hin zur Neuorientierung erforderlich ist, können die Arbeitsagenturen und Jobcenter bereits jetzt Qualifizierung umfassend fördern und mit dem Arbeitslosengeld bei Weiterbildung den Lebensunterhalt sichern. Bei längerer Arbeitslosigkeit wird Arbeitslosengeld II (zukünftig Bürgergeld) gezahlt, wenn der Lebensunterhalt nicht selbst gedeckt werden kann.

Voraussetzung für eine Förderung ist dabei richtigerweise, dass sie notwendig ist, um eine drohende Arbeitslosigkeit abzuwenden bzw. dass sich die Berufschancen durch das Nachholen eines Berufsabschlusses verbessern. Nur dann ist auch eine Finanzierung durch Mittel der Arbeitslosenversicherung gerechtfertigt. Es besteht also keine diesbezügliche Förderlücke, sofern eine entsprechende Weiterbildung aus arbeitsmarktpolitischer Sicht notwendig ist.

Die Förderung gesamtgesellschaftlicher Ziele muss steuerfinanziert sein

Mit der Zielsetzung der Bildungs(teil)zeit, eine allgemeine Weiterbildungskultur zu schaffen, werden mehr bildungspolitische als arbeitsmarktpolitische Funktionen erfüllt. Die individuelle Motivation zur beruflichen Weiterbildung zu stärken, berufliche Aufstiegschancen zu erhöhen und die Attraktivität der beruflichen Bildung insgesamt zu steigern, ist ein wichtiges – bildungspolitisches – Ziel. Es werden auch nur geringe Anforderungen an die arbeitsmarktliche Verwertbarkeit der durchgeführten Weiterbildung gestellt. Eine entsprechende Förderung müsste dementsprechend steuerfinanziert sein.

Aber auch hierfür stehen bereits Förderinstrumente zur Verfügung: die Bildungsprämie, das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (AFBG), das BAföG (s.o.) und zahlreiche Länderförderungen. Zudem ist mit dem im Koalitionsvertrag angekündigten „Lebenschancen-BAföG“ ein weiteres Instrument geplant. Es müsste in einem ersten Schritt genau analysiert werden, bei welcher Zielgruppe ein zusätzlicher Förderbedarf besteht und wie dieser bestenfalls aussehen sollte.

Finanzierung aus der Arbeitslosenversicherung wäre systemfremd

Sollte die Bildungs(teil)zeit Weiterbildung unabhängig vom konkreten individuellen Bedarf er[1]möglichen, um generell das Qualifikationsniveau zu erhöhen bzw. zu erweitern, ist sie ein gesamtgesellschaftliches Ziel und kein arbeitsmarktpolitisches. Deshalb darf eine Finanzierung nicht zu Lasten der Beitragszahlenden der Arbeitslosenversicherung (Arbeitgeber und Arbeitnehmer) erfolgen. Denn hier finanziert der Geringverdiener den Gutverdiener – anders als bei der Steuerfinanzierung – über Beiträge vom ersten Euro Einkommen an: Dabei werden insbesondere Gutverdiener sich die Bildungs(teil)zeit leisten können.

Hier lohnt auch ein Blick ins Nachbarland Österreich, das mit seiner „Bildungskarenz“ Pate für die geplante Bildungs(teil)zeit steht: 64,4 % der Teilnehmenden im Jahr 2008 hatten eine Matura (Abitur) als höchsten Schulabschluss, knapp 27 % ein abgeschlossenes Studium. Nur 1,6 % der Teilnehmenden hatten den Pflichtschulabschluss als höchsten Bildungsabschluss, knapp 25 % eine abgeschlossene Lehre. 2018 hatten 41 % der Teilnehmenden einen höheren oder akademischen Abschluss. Es gelingt also in Österreich nicht, die Zielgruppe der Geringqualifizierten mit der Bildungskarenz für Weiterbildung zu gewinnen. Genau diese Zielgruppe gilt es, arbeitsmarktpolitisch besonders in den Fokus zu nehmen.

Die Bildungs(teil)zeit erreicht Geringqualifizierte nicht und schafft Fehlanreize

Statt einer undifferenzierten Weiterbildungsförderung nach dem Gießkannenprinzip ist es ziel[1]führend, gerade für die in der Weiterbildung unterrepräsentierten Gruppen Anreize zu setzen und Unterstützungsinstrumente ggf. auszubauen.

Eine Zielgruppe, die bislang nur schlecht für Weiterbildung erreicht werden kann, ist z. B. die Gruppe der Geringqualifizierten, also z. B. Menschen ohne einen Berufsabschluss, bzw. Gering[1]verdienenden. Sofern in dieser Zielgruppe ein individueller arbeitsmarktbezogener Wunsch nach Weiterbildung besteht, sollten Förderinstrumente bedarfsgerecht unterstützen. Die geplante Bildungs(teil)zeit erfüllt genau diese Voraussetzungen nicht. Die finanzielle Unterstützungsleistung soll sich ausschließlich an der Existenzsicherung in Höhe des Arbeitslosengeldes orientieren. Gutverdienende Beschäftigte dürften sich eine solche Auszeit leisten können. Für Geringverdienende bietet das wie gezeigt keinen Anreiz.

Weiterbildungsförderung muss im Rahmen eines Gesamtkonzeptes erfolgen, das sowohl nach Zielgruppen (Arbeitslose, Beschäftigte, Geringverdienende, usw.) als auch nach Zielrichtung (arbeitsmarktpolitisch oder gesamtgesellschaftlich) unterscheidet. Entscheidend für eine Förderung müssen dabei immer der individuelle Bedarf und der individuelle Nutzen sein. Je höher der individuelle Bedarf, desto höher die Förderung; je höher der individuelle Nutzen desto höher der mögliche Eigenanteil.

Bestehende steuerfinanzierte Zuschussmodelle für die Teilnahme an Bildungsmaßnahmen sollten insbesondere für Menschen ohne Berufsabschluss und Geringverdiener passgenau ausgebaut werden und eine Unterstützung zum Lebensunterhalt entsprechend den persönlichen Lebensumständen wie Einkommen und Familienstand zu ermöglichen. Neben einer (anteiligen) Übernahme der Qualifizierungskosten sollten für diese Zielgruppe auch gezielt Anreize wie eine Weiterbildungsprämie bei erfolgreichem Prüfungsabschluss oder ein Weiterbildungsgeld als „Bonus“ für die mit der Qualifizierung verbundenen Anstrengungen mitgedacht werden – wie dies im Rahmen des Bürgergelds geplant ist. Der gesamte Förderprozess ist auf Zugangshemmnisse zu überprüfen. Voraussetzung für eine Förderung sollte immer die Verwertbarkeit im Beruf sein. Dies muss bei Antragsstellung und Beratung nachgehalten werden. Vergleichbare Förderinstrumente auf Bundes- und Länderebene müssen kompatibel und ergänzend aufgestellt werden und zeitlich größtmögliche Flexibilität bieten.

Eine generelle Bildungszeit verschärft den Fachkräftemangel

Die Inanspruchnahme der Bildungszeit soll laut Koalitionsvertrag nur auf der Grundlage einer entsprechenden Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten möglich sein. Ein Rechtsanspruch ist richtigerweise nicht vorgesehen. Er würde einseitig die Arbeitgeber belasten und den ohnehin in vielen Bereichen bestehenden Fachkräftemangel ggf. noch verschärfen. Denn auch die Vereinbarung einer Bildungszeit birgt Risiken für den Arbeitgeber. Gut integrierte Arbeits- oder Fachkräfte fallen zumindest vorübergehend, ggf. aber auch vollständig aus z. B. bei einer beruflichen Umorientierung nach Ende der Bildungszeit. Erfahrungen mit der Bildungskarenz in Österreich zeigen, dass nur 45 % der Teilnehmenden zum ursprünglichen Arbeitgeber zurückkehren.

Vorschläge zu Anpassungen der Fördermöglichkeiten der beruflichen Weiterbildung

Es bestehen bereits umfangreiche Fördermöglichkeiten der beruflichen Weiterbildung. Diese gilt es sinnvoll weiterzuentwickeln, zu vereinfachen und zu flexibilisieren. Für die Förderung von Weiterbildung können dabei drei Szenarien unterschieden werden, die einer entsprechenden Anpassung der Förderkulisse bedürfen – Umorientierung innerhalb des Betriebes, Betriebswechsel und eigeninitiatives Weiterbildungsinteresse der Beschäftigten. Die BDA hat hierzu praxisdienliche Vorschläge eingebracht. Diese beinhalten insbesondere:

  • eine vereinfachte Beschäftigtenförderung parallel zur bestehenden Beschäftigtenförderung (B-Flex-Förderung mit nur einer Förderkonstellation pro Betriebsgröße, reduziertem Mindeststundenerfordernis von 60 Stunden und neu zu entwickelnden Durchschnittskostensätzen)
  • eine stärkere Förderung bei Qualifizierung für einen verbindlich vereinbarten Job-to-Job-Wechsel
  • eine stärkere Vernetzung der regionalen Akteure und eine Weiterentwicklung von Drehscheibenmodellen/Weiterbildungsplattformen
  • eine gezielte Unterstützung besonderer Zielgruppen (Geringqualifizierte, Geringverdienende) durch Verbesserung bestehender steuerfinanzierter individueller Weiterbildungsförderung z. B. durch Zuschüsse ähnlich der zum Jahresende auslaufenden „Bildungsprämie“ und ggf. Unterstützung des Lebensunterhalts während der Qualifizierung
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